Kshanti – Raum Geben, Nach Hause Holen

Kshanti bleibt unberührt, wenn einem jemand Unrecht tut. Sowohl verletzende Worte als auch ungute Handlungen – sobald man sich verletzt fühlt, kommt der Impuls nach Vergeltung. Diese Reaktion heißt „vikriya“. Sie erscheint zunächst als eine mentale Veränderung und wird dann entweder mit Worten oder durch physisches Handeln ausgedrückt. Die Abwesenheit einer solchen Reaktion ist Kshanti.

Wie kann jemand ohne eine Reaktion bleiben, wenn er nach seinem Empfinden verletzt wurde? Die Psychologie würde sagen, die Reaktion ist angemessen, ganz legitim. Auf eine Weise ist das auch richtig; aber hier wollen wir einen Schritt weiter gehen. Wir meinen nicht, daß du Ärger unterdrücken solltest, aber du solltest schauen, wie du hinter die Reaktion kommst.

Das ist nur möglich, wenn du ein ganz intimes Verständnis für die andere Person hast. Was hat sie veranlaßt, so zu handeln? Jede Person handelt so wie sie es im Moment tut, weil sie es nicht anders kann. Wenn sie es könnte, würde sie es sicherlich tun.

In der Regel vermeiden wir den Kontakt mit Menschen, mit deren Verhalten wir schwer umgehen können. Aber das löst nicht das Problem mit meiner Reaktion darauf. Ich muß bei mir selbst im Innern nachschauen und sehen, warum ich der anderen Person nicht zugestehen kann, daß sie so ist wie sie ist. Eine Reaktion geschieht nur, weil da Intoleranz (auf meiner Seite) ist. Oder, wenn man es anders betrachten will, weil da Internalisierung stattfindet.

Wenn ich mich wegen der Handlung von Jemandem verletzt fühle, dann internalisiere ich dieses Verhalten, lasse es in mich hinein, so als hätte ich selbst eine Verantwortung dafür. Tatsächlich ist es aber so, daß ich erwachsen bin und nur für meine eigenen Gefühle und Handlungen verantwortlich. Wenn sie falsch sind, kann ich sie jederzeit korrigieren. Aber ich kann es mir nicht leisten, Verantwortung für Gefühle und Handlungen von Anderen zu übernehmen. Das einzige was ich tun kann ist, daß ich jede Person, mit der ich Umgang haben muß, genau so akzeptiere, wie sie ist.

Jede Person kommt aus bestimmten Verhältnissen. Mit dem selben Hintergrund würde ich genau das Gleiche tun. Dieses Einbeziehen des Hintergrundes der anderen Person als Ursache ihrer Reaktionen zeugt von Reife, von erwachsen Sein.

Es gibt Gesetze, die das Verhalten des menschlichen Verstandes beherrschen. Deshalb kann es eine wissenschaftliche Disziplin wie die Psychologie geben. Bestimmte Voraussetzungen wie Herkunft, Bildung und Erfahrungen resultieren in verschiedenen Arten von Verhalten. Wer soll dafür verantwortlich sein?

Wenn ich das anerkennen kann, werde ich Mitgefühl haben, Verständnis, und ich werde zuhören können. Alles was ich als Antwort auf das, was gerade geschehen ist, tue, wird aus diesem Verständnis heraus passieren. Das erfordert große Geduld, denn es ist nicht leicht, eine andere Person zu verstehen. Manchmal braucht das Jahre! Verheiratete Leute trennen sich nach zwanzig Jahren, weil die Verständigung falsch läuft. Um eine andere Person zu verstehen müssen wir offen ihr gegenüber sein, und das können die meisten nicht, weil sie Ängste und Ablehnungen haben. Und das Ergebnis ist eine Kommunikation, die nicht total ehrlich und konsequent ist, und so ist dann auch die Beziehung.

Jeder bleibt in einigen Bereichen verschlossen und das Verhalten wird von einem ängstlichen Wunsch getragen, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Anstatt dich erwachsen werden zu lassen, verursacht die intime Beziehung noch mehr Probleme, solange bis du in der Lage bist, offen zu sein und die andere Person zu verstehen. Diese Offenheit nennen wir Kshanti, Beheimaten. Gib Kshanti einen vorrangigen Platz in deiner Wertestruktur, dann wirst du offen sein können und es wird dir leicht fallen, andere zu verstehen.

Deine Handlungen werden dann stets angemessen sein. Wenn sich mal etwas aus Mangel an Daten als falsch herausstellt, kannst du es einfach korrigieren. Aber bei einer Reaktion gibt es keine Korrektur, weil nichts gelernt wird. Die Reaktion geschieht einfach, sogar wider dein besseres Wissen.

Während wir handeln, können wir lernen. Wir können uns nicht darauf verlassen, daß wir immer genügend Überblick haben, um jede Handlung erfolgreich zu machen. Aber wir können immer daraus lernen.

Voller guter Absichten handle ich vielleicht bewußt und aus Sympathie, aber der Andere muß das nicht auch als einen Akt von Sympathie erkennen. Er kann es immer mißinterpretieren und denken, ich würde ihn bevormunden. Auf dieser Ebene ist die Kommunikation nicht einfach. Selbst die kommunikativsten Leute haben Schwierigkeiten, in so einer Situation zu kommunizieren. Aber du mußt es versuchen. Ich kann die Handlung verbessern oder meinen Kurs verändern, so lange wie ich bereit bin, die andere Person zu verstehen. Und das ist nur möglich, wenn ich Kshanti, diese Offenheit, habe.

Das Beispiel, das ich immer anführe, um Kshanti zu erklären, ist das Baby, das seinem Vater Fußtritte verpaßt. Der Vater wird sich darüber nicht nur nicht beschweren, sondern er ist so stolz, daß sein Baby ihn getreten hat, daß er es seiner Frau erzählen muß! Wenn das Kind ihn fünfzehn Jahre später so treten würde, wäre seine Antwort eine völlig andere. Er konnte die Bedeutung der Handlung beim Baby wertschätzen und mußte deshalb nicht reagieren. Das Baby tritt den Vater aus einer völligen Unschuld heraus.

Selbst wenn der ältere Sohn tritt, gibt es einen Grund. Vielleicht ist er unter dem Einfluß von Alkohol oder Drogen; es mag hundert verschiedene Gründe geben, aber wenn ich kein Kshanti habe, werde ich diese Gründe nie verstehen; ich werde einfach nur blind reagieren.

Dieser Wert ist kein gewöhnlicher, kein geringer. Ich würde sagen, er sollte den wichtigsten Platz in der Wertestruktur einnehmen. Wenn jemand Kshanti hat, ist er ein Heiliger. Alle anderen Werte – amanitva, adambhitva, ahimsa etc. werden folgen, weil diese Person versucht, andere und sich selbst zu verstehen und nicht zu verurteilen. Wenn du dir selbst gegenüber nicht kritisch bist, kannst du auch andere verstehen, ohne kritisch zu sein, und wenn du freundlich zu dir selbst bist, kannst du auch freundlich zu anderen sein.

Um freundlich zu dir selbst zu sein, mußt du dich nur an dir selbst als Person erfreuen. Es ist nichts falsch an dir, so wie du bist. Und wenn dann Vedanta zu dir sagt, daß du, trotz der Begrenztheit deines Körpers, deines Verstandes und deiner Sinne, daß du trotzdem purna bist, völlig akzeptabel, hat das Bedeutung, weil du psychologisch diese Tatsache nicht ablehnst. In dieser Vision ist gründlich verstanden, daß es kein Problem gibt. Jede Korrektur, deren dein Verhaltensmuster bedarf, ist ohne Selbstverurteilung möglich.

“Heiliger” wird ein sehr großes Wort, weil wir Heiligen eine besondere Größe geben, so daß wir bleiben können was wir sind. Jeder muß ein Heiliger werden in dem Sinn, daß ein Heiliger eine reife erwachsene Person ist. Ich muß Verantwortung übernehmen für meine Handlungen und Gefühle und anerkennen, daß es keine äußere Kraft gibt, die mich mehr beeinflussen kann, als ich ihr erlaube. Ich bin der Teufel und ich bin der Engel, der meine Handlungen antreibt. Ich bin für alle meine Gefühle und Handlungen verantwortlich, und andere Menschen für ihre eigenen. Wenn ich denke, daß ihr Verhalten besser sein könnte, dann habe ich ihren Hintergrund noch nicht verstanden. Das zu erkennen ist der einzige Weg, erwachsen zu werden.

Wenn du mit Kopfschmerzen zum Arzt gehst, behandelt er dich nicht als gute oder schlechte Person. Er behandelt ein Problem. Selbst wenn du ein Alkoholiker bist, kann er sich nicht als Richter über deine erkrankte Leber aufschwingen. Oder wenn eine Person im Fieberdelirium den Arzt beleidigt, kann er das nicht als Angriff nehmen und sich weigern, den Patienten zu behandeln. Genau so antwortet ein Heiliger einer Person, die Probleme mit ihrem Verhalten hat. Er verurteilt nicht, weil er sehr gut weiß, daß niemand gut oder schlecht ist. Jeder ist eine Mischung von unzähligen Faktoren – weder gut noch schlecht.

Es gibt bestimmte Verhaltensmuster aufgrund bestimmter Hintergründe, und sie sind sehr gut vorhersehbar. Von einer bestimmten Art Vater oder Mutter, einer bestimmten Gesellschaft, mit einer bestimmten Schulbildung kommt eine bestimmte Art von Verhalten heraus. Aber eine großartige Sache im Bezug auf menschliche Wesen ist, daß diese Programmierung gelöscht werden kann. Als Erwachsener kann ich ein Gegengewicht schaffen zu gewohnheitsmäßigen Verhaltensmustern, die in meiner Kindheit wurzeln. Dieses Gegengewicht ist meine Wertestruktur.

Wenn ich das ganz innig verstehe, dann gebe ich einem Wert wie Kshanti den ersten Platz. Ich halte es für den wichtigsten Wert in unserer modernen Welt, wo es so viel Stress, so viel Konkurrenz und deshalb auch Bitterkeit und Boshaftigkeit gibt. Die einzige Antwort darauf ist es, als einen vorrangigen Wert Kshanti zu haben. Das ist der Weg, erwachsen zu werden.

(Zu Bhagavad Gita XIII, 7, Kommentar von Swami Dayananda Saraswati)

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