Jedes Wesen darf so sein wie es ist. Alles ist gut.
Kshantih - Raum geben

BHAGAVAD GITA – Kap.13 Vers 7-9 – Werte (Values)

Kshāntih:

Shankara sagt, daß Kshāntih bedeutet, man bleibt gelassen, wenn ein anderer einen bezichtigt. Wenn man auf irgendeine Weise verletzt wird was gegen Dharma geht, sei es mit Worten oder Taten, dann ist da ein Impuls zurückzuschlagen. Diese Reaktion heißt Vikriyā. Sie taucht zunächst als eine mentale Modifikation auf und wird dann in Form sprachlicher oder physischer Handlung ausgedrückt. Wenn diese Reaktion nicht vorhanden ist, ist das Kshānti. Wie kann jemand ohne Reaktion bleiben, wenn ihm in seiner Wahrnehmung Unrecht getan wurde? Die Psychologie wird sagen, daß eine Reaktion angemessen und legitim ist. Auf eine Weise ist das richtig; wir gehen hier aber einen Schritt weiter. Wenn wir Aatma-jnaana erreichen wollen, sind solche Reaktionen überhaupt nicht angemessen. Wir sagen nicht, daß du deinen Ärger unterdrücken solltest, aber daß du schauen solltest, wie du die Reaktion überwinden kannst. Das ist nur dann möglich, wenn du die andere Person ganz intim verstehst. Was hat ihn veranlasst, sich auf diese Weise zu verhalten? Jede Person handelt oder reagiert auf eine bestimmte Weise, weil er nicht anders kann. Wenn er es könnte, würde er das sicherlich tun. Für gewöhnlich vermeiden wir Menschen, mit deren Verhalten wir schwer umgehen können. Aber das löst nicht das Problem mit meiner Reaktion. Ich muß in mich selbst hineinschauen und sehen, warum ich nicht in der Lage bin, der anderen Person zu erlauben, so zu sein wie er oder sie ist. Reaktion geschieht nur aufgrund von Intoleranz oder, wenn man anders drauf schaut, aufgrund von Internalisierung. Wenn mich eine Handlung von jemandem verletzt, dann internalisiere ich dieses Verhalten, als ob ich dafür irgendeine Verantwortung tragen würde. Wirklich verantwortlich bin ich als erwachsener Mensch nur für meine eigenen Emotionen und Handlungen. Wenn sie falsch sind, kann ich sie jederzeit korrigieren. Aber ich kann mir nicht leisten, Verantwortung für die Emotionen und Handlungen von anderen zu übernehmen. Das einzige was ich tun kann ist, daß ich jede Person, mit der ich zu tun habe, genau so annehme, wie er oder sie ist. Jede Person kommt von einem bestimmten Hintergrund. Mit dem gleichen Hintergrund würde ich das gleiche tun. Dieses Inbetrachtziehen des Hintergrundes des anderen als Basis für seine Antworten, das ist persönliche Reife.

Es gibt Regeln, die bestimmen, wie der menschliche Verstand arbeitet.

Deshalb gibt es eine wissenschaftliche Disziplin wie die Psychologie. Bestimmte Hintergründe resultieren in bestimmten Typen von Verhalten. Wer soll dafür verantwortlich sein? Wenn ich das akzeptieren kann, werde ich Mitgefühl haben, Verständnis, und die Fähigkeit zuzuhören. Jede meiner Reaktionen auf das, was gerade passiert ist, wird getragen von einem Verständnis für die Person. Das erfordert große Geduld, weil es nicht leicht ist, jemand anderen zu verstehen. Manchmal braucht das Jahre. Manchmal trennen sich Verheiratete nach zwanzig Jahren, weil sie im Bezug auf das Verständnis scheitern. Um jemand anderen zu verstehen, müssen wir offen ihm gegenüber sein. Und die meisten von uns sind dazu nicht in der Lage, aufgrund eigener Ängste und Besorgnissen. Als Ergebnis ist die Kommunikation nicht ganz ehrlich und in der Folge auch die Beziehung nicht. Jeder bleibt in bestimmten Gebieten verschlossen und das Verhalten gründet sich auf eine Ängstlichkeit, die Beziehung zu pflegen. Anstatt dich reifen zu lassen, verursacht die intime Beziehung weitere Probleme – bis du in der Lage bist, dich zu öffnen und die andere Person zu verstehen. Diese Offenheit nennt sich Unterkunft, Raum geben, Kshānti. Wenn du dem einen vorrangigen Platz in deiner Wertestruktur gibst, dann findest du heraus, daß du offen bist und leicht in der Lage, Menschen zu verstehen. 

Dann wird deine Handlung angemessen sein. Wenn sich herausstellt, daß du aufgrund fehlender Informationen falsch gehandelt hast, kannst du das jederzeit korrigieren. Bei einer Reaktion aber gibt es keine Korrektur, weil in der Reaktion nichts dazu gelernt wird; sie geschieht einfach, manchmal sogar gegen unser Verständnis. Bei einer Handlung dagegen können wir lernen. Wir können nicht darauf zählen, daß wir immer genug informiert sind, um jede Handlung zum Erfolg zu führen, aber wir können immer lernen dabei. Ich kann mir große Mühe geben, absichtlich aus Sympathie heraus zu handeln, was aber nicht heißt, daß das Gegenüber das auch als sympathiegetragene Handlung nimmt. Er kann es immer falsch interpretieren und denken, ich wolle ihn bevormunden. Hier ist weitere Kommunikation nicht einfach. Selbst sehr kommunikative Menschen tun sich hier schwer. Aber du musst es zumindest versuchen. Ich kann die Handlung verbessern oder ihre Zielrichtung ändern, so lange wie ich bereit bin, den anderen zu verstehen. Und den anderen zu verstehen ist nur möglich, wenn ich Kshānti habe.

Das Beispiel, das ich immer für Kshānti gebe, ist das Baby, das den Vater tritt.

Der Vater beschwert sich nicht darüber. Im Gegenteil macht es ihn stolz und er teilt seine Freude, getreten zu werden, mit seiner Frau. Wenn ihn allerdings das Kind fünfzehn Jahre später treten würde, würde er völlig anders darauf reagieren. Es gab keine Reaktion auf die Tritte des Babys, weil er den Hintergrund, von dem aus das Baby tritt, wertschätzte. Der Hintergrund ist Unschuld. Auch wenn das ältere Kind tritt, gibt es einen Hintergrund. Vielleicht steht er unter dem Einfluß von Alkohol oder Drogen; es kann hundert verschiedene Gründe geben, aber wenn ich keinen Raum geben kann, kein Kshānti habe, kann ich diesen Hintergrund nicht verstehen und reagiere nur unbewußt. Dieser Wert ist kein gewöhnlicher. Ich würde sagen, er muß den wichtigsten Platz in jemandes Wertestruktur einnehmen. Wenn jemand Kshānti hat, ist er ein Heiliger. Alle anderen Werte – Amānitva, Adambhitva, Ahimsā etc, werden folgen, weil die Person versucht zu verstehen, ohne Urteile zu fällen über andere oder über sich selbst. Wenn du nicht urteilend dir selbst gegenüber bist, kannst du andere verstehen, ohne urteilend zu sein. Und wenn du dir selbst gegenüber liebevoll sein kannst, kannst du es auch anderen gegenüber sein. Um liebevoll zu dir selbst zu sein, mußt du dich als Person genießen. Da ist nichts falsch daran, wie du bist. Und wenn dann Vedanta sagt, daß du, obwohl der Körper, der Verstand und die Sinne begrenzt sind, Puurna bist, völlig akzeptabel, dann ist das sinnvoll, weil du psychologisch diese Tatsache nicht leugnen kannst. Wenn diese Vision gründlich verstanden ist, gibt es kein Problem. Jede Korrektur, die nötig wird im Verhaltensmuster wird möglich, ohne daß du dich selbst verdammen mußt.

„Heiliger“ ist ein sehr großes Wort, weil wir einem Heiligen eine erhabene Statur zuschreiben, so daß wir bleiben können, was wir sind. Jedoch muß jeder ein Heiliger werden in dem Sinne, daß ein Heiliger ein reifer, erwachsener Mensch ist. Ich muß Verantwortung übernehmen für meine Handlungen und Gefühle und anerkennen, daß es keine Kraft von Außen gibt, die mich mehr beeinflussen kann, als ich es ihr erlaube. Ich bin der Teufel und auch der Engel, der meine Handlungen antreibt. Ich bin für alle meine Emotionen und Handlungen verantwortlich, und andere Menschen sind verantwortlich für ihre eigenen. Wenn ich denke, daß deren Verhalten besser sein könnte, dann habe ich nicht ihren Hintergrund verstanden. Das einzusehen ist er einzige Weg, erwachsen zu werden. 

Wenn du mit Kopfschmerzen zum Arzt gehst, behandelt er dich nicht als gute oder schlechte Person. Er behandelt ein Problem. Selbst wenn du Alkoholiker bist, kann er nicht über dich Gericht halten wegen deiner kranken Leber. Ein anderes Beispiel: Wenn ein Patient im Fieberdelirium den Arzt beleidigt, kann er daran nicht Anstoß nehmen und sich weigern, den Patienten zu behandeln. Auf genau die gleiche Weise reagiert ein Heiliger auf eine Person, die Verhaltensprobleme hat. Er urteilt nicht, weil er genau weiß, daß niemand gut oder schlecht ist. Jeder Mensch ist eine Mischung zahlloser verschiedener Faktoren – keiner davon gut oder schlecht. Es gibt bestimmte Verhaltensmuster aufgrund des Hintergrundes der Person. Diese kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen. Mit einer bestimmten Art Vater, Mutter, Gesellschaft, einer bestimmten Schulung ergibt es ein bestimmtes Verhalten. Aber eine tolle Sache beim Menschen ist, daß diese Programmierung verändert werden kann. Als Erwachsener kann ich ein Gegenmittel entwickeln zu den Verhaltensmustern, die aus meiner Kindheit stammen. Dieses Gegenmittel ist meine Wertestruktur. Wenn ich diese Zusammenhänge ganz unmittelbar verstehe, dann setze ich einen Wert wie Kshānti, Raumgeben, an die erste Stelle. Ich halte diesen Wert für den wichtigsten in der modernen Welt, wo es so viel Spannung und Wettbewerb gibt und deshalb auch so viel Groll. Die einzige Antwort auf diese Herausforderungen ist Kshānti als höchsten Wert zu nehmen. Auf diese Weise wird man erwachsen.

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